Esther Yellin

Was die Musik und das Klavier angeht, verdanke ich alles dem Unterricht bei der ausserordentlichen, 1940 in Litauen geborenen Künstlerin, bei welcher zu studieren ich das Privileg hatte. Erst Jahre später, mit Abstand und mithilfe der Philosophie habe ich einen Zugang zu ihrer Kunst gefunden, der nun endlich auch am Instrument Früchte trägt. Wer in den 90er Jahren einen ihrer Meisterkurse in der von ihr gegründeten Heinrich Neuhaus-Stiftung in Zürich miterlebt hat oder eines ihrer in den letzten Jahrzehnten raren Konzerte besucht hat, weiss um das Ausserordentliche ihres Spiels und ihrer Behandlung des Klaviers. Bis heute lebte die Künstlerin nur in der Gegenwart ihrer pädagogischen und künstlerischen Aufgaben und schenkte früher Geleistetem keinerlei Aufmerksamkeit. Da hier im Westen aber kaum jemand ihr Spiel kennt, habe ich mich auf die Suche gemacht und nun endlich erste Aufnahmen entdeckt, die sie zwischen 1960 und 1968 in Litauen gemacht hat. Diese Aufnahmen (Beethoven, Chopin, Schumann, Debussy, Mozart) enthalten schon viele jener Qualitäten, die ihr Spiel später so einzigartig machte.

Was bei diesen frühen Aufnahmen als erstes auffällt, ist die unerhörte Schönheit ihres Spiels. Die Instrumente, auf denen sie damals spielte, sind teilweise schlecht und verstimmt, der Bass klingt dumpf, die Aufnahmequalität entspricht nicht heutigen Standards. Es handelt sich also nicht um eine äusserliche, ästhetizistische Schönheit, sondern um eine Schönheit, die von innen kommt und stark berührt. Sie scheint mir auf einer gesteigerten Gegenwärtigkeit der Musik zu beruhen. Es gibt nichts Verschlucktes, Überpieltes, keine Passagen, in denen man nur schnelle Finger hört. Alles ist beseelt, "bis zuletzt", wie sie im Unterricht immer wieder inständig forderte. Es ist eine Schönheit des Schwebens. Gestalten werden geboren und lösen sich wieder auf.

Leider konnten diese Aufnahmen bisher nicht veröffentlicht werden. Dafür konnten einige spätere Aufnahmen aus dem Jahr 1985 zugänglich gemacht werden, die das Schweizer Radio aufgezeichnet hat. Sie sind zwar im Tonstudio entstanden, sind aber quasi Live-Aufnahmen, indem die Möglichkeit des Schneidens damals nicht bestand. Die Künstlerin war in diesen Jahren eben erst aus Israel in die Schweiz gekommen und hatte bei sich zuhause kein Instrument zur Verfügung und deshalb nur sehr beschränkte Übemöglichkeit - etwas, was man den Aufnahmen aber kaum anmerkt. In diesen Aufnahmen hören wir die Künstlerin etwa so, wie wir Schüler sie Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre kennengelernt haben: langsame bis sehr langsame Tempi und eine grosse Liebe in der Ausformulierung des Einzelnen. Hören Sie sich die Berceuse an - oder die Sonate von Haydn! Ein absolutes Muss ist auch der langsame Satz der Schubert-Sonate ... Was sind Ihre Favoriten?

Chopin, Berceuse, Op.57, played live by Esther Yellin in 1985 at the SRF (Swiss Radio) by Esther_Yellin

PREVIEW Chopin Polonaise-fantaisie, Op.61 played by Esther Yellin in 1985 at the SRF (Swiss Radio) by Esther_Yellin

Haydn Sonata No.50, 1st Movement, played by Esther Yellin in 1985 at the SRF (Swiss Radio) by Esther_Yellin